Initiative ‚Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten‘

Rede Hagen Schink Ratssitzung 04.07.2022

Ich hatte mich in den vergangenen Wochen nochmal eingehend mit der Initiative „Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten“ beschäftigen können und möchte Ihnen im Folgenden darüber berichten, da dies für die Bewertung des Antrags von Bedeutung sein kann.

Zunächst meldete ich mich in der Geschäftsstelle der Initiative bei Frau Kodritsch vom Dezernat für Stadtentwicklung und Bau in Leipzig. Sie stellte sofort den Kontakt zu den Verantwortlichen in Braunschweig und Wolfsburg her.

Ich schilderte beiden Verantwortlichen schriftlich die aktuelle politische Lage in Gifhorn bezüglich der Initiative und bat um eine Darstellung des Beitrittsverlaufs in ihren jeweiligen Städten.

Aus Braunschweig wurde mir von Frau Fricke aus dem Fachbereich Tiefbau und Verkehr mit dem Themenschwerpunkt Gesamtverkehrsplanung schriftlich mitgeteilt, dass der Anstoß zum Beitritt aus der Verwaltung kam. Der Antrag zum Beitritt wurde dann am 28.09.2021 vom Verwaltungsausschuss mit 9 Stimmen dafür und einer Gegenstimme angenommen. Die Beitrittserklärung wurde vom damaligen Oberbürgermeister Markhurth (SPD) unterzeichnet.

Mit dem Ansprechpartner aus Wolfsburg, Herr Bauer vom Dezernat III, hatte ich ein knapp fünfzehnminütiges Telefonat, in dem er mir erläuterte, dass er als ehemaliger Leiter des Wolfsburger Ordnungsamts oft an die Grenzen der Straßenverkehrsordnung (StVO) gestoßen sei: Dort, wo aus seiner Sicht Tempo 30 sinnvoll wäre, konnte er dies aufgrund der fehlenden rechtlichen Grundlage nicht anordnen. Als er im letzten Jahr von der Initiative erfuhr, unterschrieb er nach Absprache mit dem damaligen Wolfsburger Oberbürgermeister Mohrs (SPD) die Beitrittserklärung. Die Politik wurde im Nachhinein informiert. Bedenken, dass mit der Initiative die flächendeckende Anordnung von Tempo 30 innerorts erfolgen würde, konnte Herr Bauer zerstreuen. Laut Herrn Bauer steht die Mehrheit der politischen Vertreter hinter der Initiative, denn nach der Erläuterung war die Zustimmung nur eine Frage, und hier zitiere ich wörtlich, „des gesunden Menschenverstands“.

Herr Wachholz (2. stellvertretender Bürgermeister – SPD), kennen Sie Herrn Bauer aus Wolfsburg? Ich frage, weil er auf mich einen sehr überraschten Eindruck erweckte, als er von der Position der SPD in Gifhorn erfuhr.

Dann erhielt ich noch kurzfristig die Gelegenheit, an der ersten Onlinekonferenz der Initiative am 22.06.2022 um 18 Uhr teilzunehmen [1]. Das Grußwort hielt der Leipziger Bürgermeister und Beigeordneter für Stadtentwicklung und Bau, Thomas Dienberg. Auf der Konferenz wurde aus der Geschäftsstelle über den Stand der Initiative berichtet, Beispiele aus den Kommunen und der Schweiz präsentiert und die rechtlichen Bedingungen für eine Anpassung der StVO erörtert. Abschließend fand eine Podiumsdiskussion statt.

Was mir bei der Konferenz auffiel, was auch der Moderator und Chatteilnehmer bestätigten und was Sie vielleicht ebenfalls bereits bemerkt haben: Der Anstoß zum Beitritt zur Initiative kommt mehrheitlich aus den Verwaltungen. Und so nahmen auch an der Konferenz mehrheitlich Stadtbauräte, Bürgermeister:innen, Verkehrsplaner:innen und andere Verwaltungsmitarbeitende teil. Dies spiegelte sich meines Erachtens auch in den Antworten zu den parallel laufenden Umfragen wider. So antworteten die Teilnehmenden auf die Frage „Was sind die zwei wichtigsten Erwartungen, die Sie mit Ihrer Unterstützung der Initiative verknüpfen?“* mit einem Anteil von 50% mit „Erweiterung des Entscheidungsspielraums der Kommunen bei der Anordnung von Höchstgeschwindigkeiten“ und mit einem Anteil von 45% mit. „Generell mehr Flexibilität für die Kommunen im Straßenverkehrsrecht“. Auf die Frage „Worin sehen Sie das größte Potenzial von Tempo 30 (o.ä.) innerorts?“ antwortete die Mehrheit mit einen Anteil von 84% mit „Verkehrssicherheit (objektiv und subjektiv)“ und mit einem Anteil von 53% mit „Aufenthaltsqualität, städtebauliche Aufwertung“.

Ich kann mich täuschen, aber das deckt sich doch frappierend mit den Zielen in unserem Mobilitätskonzept 2030 [2].

Außerdem, Herr Wachholz (2. stellvertretender Bürgermeister – SPD) und liebe Kolleg:innen der SPD, passt die Initiative nicht auch zu den Zielen, die sich die Regierungskoalition gesetzt hat? Ich zitiere den Koalitionsvertrag [3] (Seite 52):
„Wir werden Straßenverkehrsgesetz und Straßenverkehrsordnung so anpassen, dass neben der Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs die Ziele des Klima- und Umweltschutzes, der Gesundheit und der städtebaulichen Entwicklung berücksichtigt werden, um Ländern und Kommunen Entscheidungsspielräume zu eröffnen.“

Was bedeutet dies nun für den vorliegenden Antrag?

Zunächst möchte ich, dass diejenigen, die gegen den Antrag stimmen möchten oder noch unentschieden sind, annehmen, dass der Antrag, so wie in vielen anderen Städten auch, nicht von der Politik sondern von der Verwaltung gestellt wurde. Diese Annahme ist auch in Gifhorn nicht völlig unbegründet, da sich die Verwaltung wohl im Verwaltungsausschuss positiv zur Initiative äußerte.

Herr Bürgermeister (CDU), korrigieren Sie mich bitte, wenn ich etwas falsch verstanden haben sollte.

Was würde eine Ablehnung nun bedeuten?

Mit einem Nein zum Antrag würden wir unserer Verwaltung und uns die Fähigkeit absprechen unter den örtlichen Bedingungen die besten Entscheidungen für die Bürger:innen zu treffen. Wir würden mit einer Ablehnung des Antrags das Signal nach außen senden, dass das Bundesministerium für Digitales und Verkehr in Berlin am besten weiß, wie der Verkehr in Gifhorn zu gestalten ist. Damit würden wir nicht nur unser Selbstverständnis als moderne Kommune konterkarieren. Mehr noch, mit Braunschweig, Hannover, Lüneburg und Wolfsburg in der Initiative als Initiativ- und Unterstützerstädte würden wir uns mit einer Ablehnung zum Gespött in der Region machen, weil wir den Eindruck erwecken, dass wir eine Fremdsteuerung aus Berlin vorziehen.

Aber sich zum Gespött zu machen, ist nicht das Problem: Sehe ich das richtig, Herr Wachholz (2. stellvertretender Bürgermeister – SPD), Herr Reuter (1. stellvertretender Bürgermeister – CDU)?

Umgekehrt würden wir mit der Annahme des Antrages zeigen, dass wir eine selbstbewusste, moderne Kommune sind, die sich bewusst ist, dass sie die örtlichen Gegebenheiten am besten kennt und daher auch die besseren Entscheidungen treffen kann. Außerdem senden wir ein positives Signal an die Verwaltung, die Bürger:innen und andere Kommunen, da wir aktiv für die Erweiterung des Entscheidungsspielraums für unsere Verwaltung im Sinne der Bürger:innen Gifhorns eintreten. Und ist das nicht unsere Aufgabe als Rat für Bedingungen zu sorgen, die es der Verwaltung erlauben, die bestmöglichen Lösungen für die Bürger:innen zu finden?

Dann sollten wir das auch zeigen und dem Antrag zustimmen.

Bei der SPD habe ich bereits Hoffnung, dass sich der gesunde Menschenverstand durchsetzt.

Herr Wachholz (2. stellvertretender Bürgermeister – SPD), ich sehe gar nicht die beiden Genoss:innen, die sich im Ausschuss enthalten haben. Haben Sie die beiden etwa ausgeladen, weil sie nicht auf Linie waren? Ich hoffe nicht, sonst würde dies ein schlechtes Licht auf das Demokratieverständnis der SPD werfen.

Bei der CDU war kein Hoffnungsschimmer erkennbar.

Deswegen gilt das folgende Zitat [4] aus Jahr 2011 von Herbert Schnädelbach [5], emeritierter Philosoph der Humboldt-Universität zu Berlin, Jahrgang 1936, Ihnen, da ich bei diesem Zitat immer an Sie denken muss.

„Die vollkommene Anpassung des Bewusstseins und seine objektive Unfähigkeit, sich Alternativen zum Bestehenden auch nur vorzustellen, ist die Ideologie der Gegenwart.“

Und noch ein Wort an unsere Herren stellvertretende Bürgermeister: Sie haben als stellvertretende Bürgermeister eine Vorbildfunktion. Mit Ihrer fehlenden Sachkenntnis, die Sie bereits in den Ausschüssen gezeigt haben, werden Sie dieser aber in keinster Weise gerecht.

Nun wünsche ich uns allen aber den nötigen gesunden Menschenverstand, um den gelungenen Antrag der Verwaltung anzunehmen.

[1] „Lebenswerte Städte und Gemeinden – Weit über 200 Teilnehmer bei erster Online-Konferenz der Initiative am 22.6.“

[2] „Leitbild Mobilität 2030 – Verkehrsentwicklungsplan für die Stadt Gifhorn“

[3] „Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit – Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP“

[4] „Wikipedia – Ideologie – Ideologie der Gegenwart“

[5] „Wikipedia – Herbert Schnädelbach“